Brienno am Comer See in Italien. Stammsitz von Andrea Giorgio Maria Bianchi (1746–1814),
Schwiegervater des Rudolstädter Musikers und Komponisten Traugott Maximilian Eberwein (1775–1831)


1. Italienreisen - Sehnsucht und Bildung

Italienreisen waren für Deutsche von jeher Quelle der Inspiration.
Eine Auseinandersetzung mit dem Altertum durch den Besuch der antiken Denkmäler und Kunstwerke war auf dem Territorium der italienischen Halbinsel unmittelbar möglich.
Ebenso konnten die Meisterwerke der mittelalterlichen Kunst sowie der Renaissance an
Ort und Stelle in Augenschein genommen werden.

Musiker zog es zudem nach Italien, weil von dort über Jahrhunderte die fortschrittlichsten Entwicklungen in diesem Bereich ausgingen. An ihnen wollte man partizipieren.
Das galt schon für Musiker wie den Komponisten und Minnesänger Oswald von Wolkenstein
(1377–1445), der Francesco Landini besuchte, oder etwa für Heinrich Schütz (1585–1672),
der sich mehrere Jahre in Venedig bei dem Komponisten Giovanni Gabrieli (1554/57–1613)
aufhielt, um die mehrchörige Sakralmusik und die Madrigalkomposition an der Quelle zu studieren.

Im 18. und zu Beginn des 19. Jh., in der Zeit des Klassizismus, erreichte die Italien-Begeisterung, ausgelöst u.a. durch das Wirken Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768), ihren Höhepunkt.
Die Reisen von Johann Wolfgang von Goethe (1786 bis 1788 und 1790), Johann Gottfried Herder (1788/89) und Johann Gottfried Seume (1802) sind exemplarisch für die Epoche.
Reisen in
„das Land, wo die Zitronen blüh'n“ wurden für Gebildete, die es sich leisten konnten, beinahe obligatorisch.

2. Ein Thüringer Musiker erhält seine Chance

Dass der Rudolstädter Hofmusiker Traugott Maximilian Eberwein (1775–1831) schon in jungen Jahren die Gelegenheit erhielt, eine ausgedehnte Italienreise zu unternehmen, ist für seinen gesellschaftlichen Rang ungewöhnlich. Erst aus dem Zusammenhang der persönlichen Beziehungen Eberweins wird deutlich, weshalb es dennoch gelang.



Carl Wilhelm Ludwig Bianchi (1783–1804/05): Traugott Maximilian Eberwein. Kreidezeichnung, vermutlich 1803

Kurz nach seiner Berufung an die Rudolstädter Hofkapelle lernte der junge Violinist Eberwein die Tochter des einflussreichen und wohlhabenden Rudolstädter Kaufmanns Andrea Giorgio Maria Bianchi (1746–1814) kennen.

Bianchi gehörte einer aus Italien stammenden Familie in Rudolstadt an, besaß ein großes Vermögen (u.a. Anteile an einem Eisenhammer in Hockeroda südlich von Saalfeld) und beriet die Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt in Finanzfragen sowie bei der Gestaltung des Stadtbildes der Residenz.

Die Familie bewohnte in Rudolstadt ein stattliches Wohnhaus, dessen prächtiger Innenhof mit mehrstöckigen hölzernen Galerien im lombardischen Stil noch heute erstaunt. Hier befand sich auch das Handelskontor der Bianchis.


Innenhof des Bianchi'schen Hauses in Rudolstadt, Marktstraße 48 (Alte Postkartenansicht).
Links unten ist der Eingang und das Schaufenster des Kontors zu erkennen.

Eberwein und die erst achtzehnjährige Tochter Bianchis, Catharina, wollten heiraten, doch die Voraussetzungen schienen zunächst nicht gegeben (der Musiker hatte zu Beginn seiner Dienstzeit
bei der Hofkapelle lediglich 220 Thaler Besoldung jährlich zu erwarten). Daraus erklärt sich das anfängliche Zögern, mit dem Andrea Bianchi die Einwilligung zur Eheschließung gab.
(Tag der Trauung: 10. September 1799).



Franz Kotta: Catharina Bianchi. Porträt auf einer Kaffeetasse der Volkstedter Manufaktur. Privatbesitz.

Durch diese familiäre Bindung waren nun die Voraussetzungen zur Realisierung einer von
Eberwein ins Auge gefassten Studienreise nach Italien gegeben.
Andrea Bianchi hatte nämlich nicht nur Besitzungen in Thüringen, sondern auch noch an dem Stammsitz der Familie in Brienno am Westufer des Comer Sees.


Die Hauptkirche von Brienno: die Chiesa Parrocchiale dei SS. Nazaro e Celso.
Wie schon seine Vorfahren, wurde auch Andrea Giorgio Maria Bianchi in dieser Kirche getauft.


In dem malerisch am Steilufer des Lago di Como gelegenen lombardischen Ort gehörten ihm mehrere Häuser mit Wirtschaftsgebäuden, eine Seidenspinnerei sowie ein Landgut in dem naheliegenden Ort Maccio. In einem regelmäßigen Turnus visitierte Bianchi seine italienischen
Liegenschaften, unter anderem auch, um Waren wie Wein, Textilien, Lebensmittel und
Luxusartikel für sein Kontor nach Rudolstadt zu importieren.

3. Unterstützung durch den Landesherrn

Im Jahr 1803 ergab sich nun die Möglichkeit, dass Eberwein, der von seinen dienstlichen Verpflichtungen in der Hofkapelle beurlaubt wurde, mit seinem Schwiegervater nach Italien aufbrechen konnte. Fürst Ludwig Friedrich II. von Schwarzburg-Rudolstadt (1767–1793–1807) stattete sein Kapellmitglied mit den dazu nötigen finanziellen Mitteln aus. Er entsprach damit einer gängigen und über Jahrhunderte geübten Praxis zur Förderung der Weiterbildung von begabten Untertanen, vor allem zu dem Zweck, sich dessen Fähigkeiten später zu nutze machen zu können.

Interessant ist hier, dass der Regent 1803 selbst zu einer ausgedehnten Italienrundreise außer Landes war. In seinem Tagebuch fast er diese Zeit lapidar zusammen:
„das 1803te Jahr war eines der | Merkwürdigsten meines Lebens, | so alltäglich wie es begann, [...] - so führte | mich doch mein guter Genius nach | Italien, [...] | und | meine Reise durch Tirol und Italien antrat. | Alles ausführlich hier zu beschreiben, erlaubt | der Platz nicht, - genug - ich war in Verona | Florenz, Parma, - war in Rom und | Neapel, bestieg mit meiner gn: Schwägerin | den Vesuv - war im Herkulanum, in | Pompeji und Paestum, und nahm mein | Rückweg über das Meer, und ging von | Venedig über Wien nach - | Rudolstadt | wo ich den 25 Jun: eintraf.“


Fürst Friedrich Ludwig II. von Schwarzburg-Rudolstadt: Hofbildhauer Franz Kotta beim Auspacken der
Gipsabgüsse aus Italien. 1804. (Liegend die Kolossalköpfe der Dioskuren, die Goethe 1805 bei einem
Besuch in Rudolstadt besichtigte.)


Dass die Reiseroute Eberweins der seines Landesherrn glich, zeigt nur, dass es schon damals standardisierte Touren gab, auf denen bestimmte Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen waren. Eberweins Italienfahrt wich allerdings in zwei entscheidenden Punkten davon ab:
Sein Aufenthalt in Brienno war rein privater Natur und die Weiterreise bis Neapel hatte vor allem
den Zweck, führende Musikzentren der Zeit zu besuchen und sich mit den fortschrittlichsten musikalischen Strömungen auseinander zu setzen. Das Ziel war Bildung.


4. Von Rudolstadt nach Brienno

Am 12. Mai 1803 bestiegen Traugott Maximilian Eberwein und der Schwiegervater Andrea Giorgio Maria Bianchi mit seinen Söhnen Bruder Rudolf Anton Nazar Georg (*1779) und
Carl Wilhelm Ludwig (*1783) die Postkutsche in südliche Richtung.

Die Reise führte zunächst durch Franken und Bayern nach München und Innsbruck (22. Mai), über Bozen (24. Mai), Verona (28. Mai), Mantua, Lodi, Mailand und Como nach Brienno, das man am
1. Juni wohlbehalten erreichte. Dort blieb Eberwein für etwas mehr als drei Wochen.
Die gewählte Route wich von der üblicherweise genommenen Strecke insofern ab, als dass Bianchi gewöhnlich das Rheintal aufwärts reiste und die Alpen beim Splügenpass Richtung Comer See überquerte. Worin der Grund für die Änderung lag, ist nicht eindeutig zu sagen; möglicherweise
gab es Reisebeschränkungen aufgrund der aktuellen politischen Lage. Brienno gehörte 1803 zum
von Napoleon abhängigen Königreich Italien, während Schwarzburg-Rudolstadt der Anti-Napoleon-Koalition zuzurechnen ist.


5. In Brienno steht die Zeit still. - Exkursion des Eberwein Archivs im Sommer 2005

Da leider keine schriftlichen Zeugnisse über Eberweins Reiseeindrücke mehr erhalten sind (das Tagebuch - sein Sohn Julius erwähnt es im Nekrolog 1833 - ist verschollen, die Pässe, die dem Chronisten der Rudolstädter Hofkapelle Bernhardt Müller noch vorgelegen haben, sind ebenfalls
nicht erhalten), bleibt nichts weiter, als sich vor Ort selbst ein Bild zu machen.


Die Besichtigung von Brienno durch das Eberwein Archiv fand am 16. und 17. August 2005 statt.
Der Ort hat sein ursprüngliches Erscheinungsbild über Jahrhunderte erhalten.
Neben der spektakulären Steillage am Seeufer zu Füßen des Sasso Gordone, faszinieren die unterirdischen Gewölbegassen: Von der zentralen Ortsstraße, die in Nord-Südrichtung verläuft, zweigen hangwärts und seewärts unter und zwischen den Häusern steile Treppengänge ab, die,
sich vielmals verzweigend, in ein Labyrinth von dunklen und kühlen Durchgängen verästeln.

Schnell wird auch klar, weshalb für die Bianchis, wie für andere Familien des Ortes, eine wirtschaftliche Lebensgrundlage problematisch war: Die Topographie des Ortes erlaubt nur
geringe landwirtschaftliche Nutzung und noch heute ist die Zahl der Abwanderungen beträchtlich. Dem Tourismus hat sich Brienno nicht geöffnet, was die Erwerbschancen in der Gegenwart nicht grundlegend verbesserte, jedoch der Bewahrung der Ursprünglichkeit des Städtchens sehr förderlich war. Hier Impressionen aus Brienno:


Am nördlichen Stadtrand liegt zwischen Pinien die
Chiesa della Madonna di Ronca o dell' Immacolata auf einem Felsenvorsprung über dem See

Die wenig befahrende Ortstraße im Zentrum von Brienno

Einer der vielen Treppenaufgänge
Die uralten Häuser Briennos reichen unmittelbar an das Ufer des Comer Sees

Der kleine Hafen. Dahinter die Hauptkirche
SS. Nazaro e Celso 

Die Nachforschungen vor Ort ergaben immerhin, dass die Kirchenbücher sich im südlicher gelegenen Ort Laglio in den am Seeufer befindlichen Gemeinderäumen befinden (Herzlichen Dank an Frau M. Antonia Ciocchini, die die Dokumente bereitgestellt hat).
Dort konnte lediglich der Geburtseintrag von
„Andrea Georgÿ Maria Bianchi“ am 16. Juli 1746 verifiziert werden. Über seinen Sohn Carl Wilhelm Ludwig, der 1804 oder 1805 in Italien starb
(von ihm stammt das einzige Bildnis Eberweins), war nichts in Erfahrung zu bringen.

Auch die Besitzungen Andrea Bianchis in Brienno konnten noch nicht ermittelt werden.
Die einmalige Atmosphäre des Ortes und seiner Umgebung jedoch dürfte Eberwein damals ebenso beindruckt haben wie uns.

Weitere Informationen zu Brienno auf der Homepage der Gemeinde:



6. Eberweins Weiterreise nach Rom

Am 23. oder 24. Juni 1803 reiste Eberwein in Begleitung seines Schwagers Carl Wilhelm Ludwig Bianchi nach Süden weiter.
Die Route führte über Como, Mailand, Piacenza, Parma, Bologna, Pianoro, über den La-Futa-Pass nach Florenz (Ankunft 8. Juli) und ohne Aufenthalt weiter nach Rom.
Dort absolvierte Eberwein intensive musikalische Studien (Violinspiel und Komposition), besuchte Opernaufführungen und besichtigte die Kunstdenkmäler.

In Rom entstanden die drei Streichquartette MEV XII,1–3, die nach seiner Rückkehr als Opus 1 bei Breitkopf und Härtel im Druck erschienen. Möglicherweise komponierte er in Italien auch die Variationen op. 2 MEV X,10 und die drei Violinduos op. 3 MEV XII,10–12 (beide 1807 bei Breitkopf und Härtel erschienen).

Der Erstdruck der drei Streichquartette op. 1, erschienen 1807 bei Breitkopf und Härtel.
Möglicherweise sind dies die Kompositionen, die Eberwein 1804 bei seiner Rückkehr über Wien Joseph Haydn zur Prüfung vorlegte und dabei Anerkennung und Ermunterung erfuhr.

7. Nach Neapel

Ein Besuch in Neapel war für jeden Italienreisenden ein Muss. Eberwein beschränkte sich jedoch nicht auf Besichtung der Altertümer (Herculanum, Pompeji), sondern studierte Tonsatz am Conservatorio Santa Maria die Loreto bei Fedele Fenaroli (1730–1818), der als Kontrapunktlehrer einen ausgezeichneten Ruf hatte. Er leitete gemeinsam mit Giacomo Tritto (1733–1824) und Giovanni Paisiello (1740–1816) das Institut. Zu seinen Schülern zählten u.a. Domenico Cimarosa (1749–1801), Nicola Antonio Zingarelli (1752–1837), Vincenzo Lavigna (1776–1836, der spätere Lehrer Giuseppe Verdis) und Giuseppe Saverio Raffaele Mercadante (1795–1870).

Außerdem soll Eberwein (nach dem Nekrolog seines Sohnes Julius von 1833) von der Akademie gebeten worden sein, Graf Wenzel Robert von Gallenberg (1783–1839) bei der Einstudierung des Oratoriums Die Jahreszeiten von Joseph Haydn beratend zur Seite zu stehen.


Das Teatro San Carlo in Neapel war noch zu Beginn des 19. Jh. das größte Theater überhaupt.

Daneben besuchte er, wie er 1827 in einem Brief an seinen Sohn Ludwig erwähnte, regelmäßig die Opernaufführungen im Teatro San Carlo.

Näheres dazu soll auf einer weiteren Italien-Exkursion des Eberwein Archivs nach Neapel erkundet werden.

Traugott Maximilian Eberwein hielt sich bis etwa Frühjahr 1804 in Neapel auf und reiste über Wien zurück. In Wien begegnete er Joseph Haydn (1732–1809, Ludwig van Beethoven (1770–1827) und Antonio Salieri (1750–1825).

Am 22. August 1804 kehrte Eberwein wieder nach Rudolstadt zurück.


Literaturauswahl:
Peter Larsen: Traugott Maximilian Eberwein – Komponist und Rudolstädter Hofkapelldirektor der Goethezeit.– In: Musik am Rudolstädter Hof. Die Entwicklung der Hofkapelle vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Thüringer Landesmuseum Heidecksburg. Red. v. Ute Omonsky. Rudolstadt 1997 (= Beitr. z. schwarzburg. Kunst- u. Kulturgesch. Bd. 6), S. 182–183
Peter Larsen:
Traugott Maximilian Eberwein (1775–1831). Hofkapelldirektor und Komponist in Rudolstadt. Mit einem systematischen Werkverzeichnis und Quellenkatalog (MEV).– Göttingen, London 1999 (= Hainholz Musikwissenschaft, Bd. 2)(= Phil. Diss. TU-Berlin 1998), S. 26–27
Krohn, Marie-Luise:
Italienische Familien in Rudolstadt.– In: Rudolstädter Heimathefte Jg.36 (1990) Rudolstadt 1990, S. 55–60
Animo italo-tedesco.– Studien zu den Italien-Beziehungen in der Kulturgeschichte Thüringens
(= Studi sulle relazioni con l'Italia nella storia della cultura Turingia). I.A. des Vorstands der Deutsch-Italienischen Gesellschaft in Thüringen e.V. Hrsg. v. Siegfried Seifert anl. d. IV. Deutsch-Italienischen Kulturbörse in Weimar, September 1995.– Weimar: Deutsch-Ital. Ges. e.V. 1995

Traugott Maximilian Eberwein



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